Januar
Kriegshelfer, wir
Was sollen, was können wir noch tun, erschüttert, die wir sind.
Wir können nicht genau über Ursachen und Wirkungen befinden. Des wahrhaft zulänglichen Wissens gibt es zu wenig; der dahergebrachten Meinungen zu viel. Deshalb: Schuldig sind wir alle. Wegen unterlassener Bemühungsleistung. Handeln ohne tiefere Einsicht ergibt Schuld.
In der chinesischen Philosophie, deren Blick nicht so sehr auf Ursache und Wirkung, sondern auf Zusammentreffen der Umstände ausgerichtet ist, im "Frühling und Herbst des Lü Bu We"
steht geschrieben:
"Daß die Erkenntnis der Menschen einander übertrifft, kommt daher, daß es weitsichtige und kurzsichtige Menschen gibt. Die Gegenwart ist im Verhältnis zur Vergangenheit Zukunft, ebenso wie die Gegenwart der Zukunft gegenüber Vergangenheit ist. Darum, wer die Gegenwart kennt, kann auch die Vergangenheit erkennen. Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen. Vergangenheit und Gegenwart, frühere oder spätere Zeit, ist alles dasselbe. Darum kennt der Weise nach obenhin und nach untenhin Jahrtausende."
Und der Dumme erkennt nach obenhin und nach untenhin nichts. Somit auch für die Gegenwart: Nichts.
Hier müssen wir ansetzen und es zeigt sich: Wir haben versagt:
Als Europäer, noch vor kurzer Zeit wohlgemutet angesichts unserer gemeinsamen Überwindung der Schützengräben, leuchtende Vorbilder des Zusammenlebens: Wir haben unsere Möglichkeit den Frieden zu leben verraten:
Gutmenschversagen, selbstverliebtes Idealismusgebaren im Angesicht der Erfordernisse unumgänglicher Realpolitik.
Unsere Glaubwürdigkeit, auch vor uns selbst ist geschwunden:
Ganz gleich ob in ihrem Selbstverständnis, in ihrer Selbstherrlichkeit sich bedroht fühlende Großmacht, ob Attackierte mit Heroeninszenierungen in Luftschutzpunkern:
Allen gegenüber haben wir unsere Autorität als friedenskompetentes Europa verloren, und
zwar unverzüglichst, zur Gänze, ohne Nachdenken:
Wir haben nicht versucht zu vermitteln. Man treibt uns vor sich her, nunmehr.
Politiklemminge, die wir sind.
Und dabei ist es inzwischen nicht mehr von Belang, ob wir die Machthaber beäugen und vergebens versuchen zu ergründen was sie wirklich bewegt, was Realität, was Manipulation ist. Und im "Frühling und Herbst des Lü Bu We" steht auch geschrieben: "Wenn man Worte hört, muß man sorgfältig sich danach richten, von wem sie kommen und sie nach den Grundsätzen der Vernunft prüfen." Staatskunst ist das. Vielmehr: wäre das.
Es geht immer auch um uns: Dass wir nicht das Angemessene, das dem Frieden dienende getan haben: Zu vermitteln. Und wenn es nur ein eventueller, ein fragiler Friede gewesen wäre. Besser als das da, dilettantidealistisches Involviertsein.
Gutmenschaufrüstung ist es, was wir da treiben: Vorschnell haben wir den großen Vorteil aufgegeben: Den Vorteil des abgeklärten nicht Betroffenen, des vorbildlichen Dritten.
Und wir sehen das Sterben auf beiden Seiten: Auch das sind wir: keine Freude mehr.
Und dann, später, werden die Historiker zu Werke gehen: Erforschen, Erklären, Interpretieren, weil wir nicht wissen, was andere eigentlich tun, was wir tun.
Großmachtbestrebungen, Separatistenschuld, Ressentiments. Erschöpfungsfrieden. Auch das Böse beginnt im Kleinen, durch Wenige. Aber eines muss auch dann doch feststehen: Wir als großmundige Vorreiter des Friedens haben versagt.
Ganz gleich was die Geschichtsforschung herausfinden wird: Teilwahrheit, Herrscherin der Welt wird es sein. Nur das Leiden, das ist wie immer ganz gewährleistet, nicht nur in Teilen.
Manchmal ist das Salopp-Einfache das Geniale: “Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin” - Wir sind auch mit hingerannt. Selbstverliebtes Gutmenschversagen.
Nunmehr sehen sich unsere Regierungen gezwungen in Länder untertänig um Energie vorstellig zu werden, dort, wo man zeitgleich Mensch steinigt, hinrichtet. Auch wir sollten in innerer und auch äußerer Kälte ausharren, anderes haben wir nicht verdient.
Gutmenschverdemütigung.
Kein zureichendes Bemühen um Ausgleich haben wir an den Tag gelegt.
Reichem Erfahrungsschatz zum Trotze. Unglaublich, das alles.
Nicht das scheinbar Richtige; das wirklich Richtige haben wir unterlassen. Was das sei:
Immer das Ausgleichende; Diplomatie wird es zuweilen genannt.
Den großen Vorteil des nicht Involvierten haben wir vertan.
Unsere Leuchtkraft als friedliches Europa, Vorbild in Überwindung jahrtausendealter Feindschaften ist verloren gegangen. Erloschen. Keine Strahlkraft geht mehr von uns aus.
Dunkel wird es um uns, mit uns.
Irgendwer sind wir, nur noch, irgendwas, in Aufrüstungsspiralen sich ergehend, emsig waffenproduzierend. Mit allen anderen zusammen am Abgrund zu Weltkrieg Drei taumelnd, verwundert, verwundet lugend.
Und während man dort, nebenan, junge Menschen zu Tausenden in den Tod schickt, vorsätzlich sterben lässt, ziehen wir hier, in unserem dekadenten, längst schon in freiem Fall befindlichen Sozialstaat eine ganze Generation lebensuntauglicher Jugendlicher heran.
Haltlosigkeit, Ratlosigkeit sind wir auch bei uns selbst, mit uns selbst. Doch das ist ein anderes Thema...
Februar
Toleranzhelfer, wir
„Du bist doch tolerant“, sprach der verschlagene Intolerante fordernd zum unbeholfenen
Toleranten.
Und der konnte wieder einmal nichts erwidern.
März
Jugendhelfer, wir
Was sollen, was können wir noch tun, erschüttert, die wir sind.
In einer Erzählung Voltaires, des große Denkers der Aufklärung, verbirgt sich die von der
Welt enttäuschte Vernunft zusammen mit ihrer Tochter, der Wahrheit, auf dem Grunde eines
Brunnens.
Abwesenheit bedeutet das. Die Abwesenheit des von zureichender Vernunft getragenen
Zusammenseins in der Welt. Im Zuge dessen wurde nunmehr auch das unfragliche
Zusammengehörlichkeitswissen von Eltern und Kindern unwiederbringlich zerstört. Von der
hyperaktiven Sozialbewusstheit.
Wir sind dabei eine ganze Generation - und zwar die nächste - dem Untergang zu weihen. Auf
den Altären der Sozialdekadenz, des Diagnosebooms opfern wir unsere Kinder, unsere
Jugendlichen der Orientierungslosigkeit, der Disziplinlosigkeit, der Traurigkeit. Mit
Therapiegeweihräuchere. Therapieversager. Versagenstherapie. Therapiebindung gegen
Charakterbildung. Nationalhysterisch ungezügelter Veitstanz auf Schulbänken zur
Beschwörung des Götzen der Erziehungsausreden. Eigenverantwortliche Anstrengung,
getragen von gesundem Menschenverstand ist unmodern. Kostet nämlich nichts. Nur was sich
in irgendeinster Weise problematisch anfühlt hat einen Preis und ist von Interesse.
Psychopädagogische Dienstleistung ist gefragt.
Eltern bringen sich selbst um den Respekt ihrer Kinder, da Psychologiegeplustere an allen
Ecken und Enden nach professioneller Hilfe ruft. Überkandidelte Profis gegen
Menschenkenntnis. Einmannshows Einfraudarbietungen allenthalben. Und dann schreit man
verzweifelt nach mehr Sozialkompetenz bei Kindern. Brüllt nach Achtsamkeitsratgebern.
Das WichtigkeitsIch herrscht, diktatorisch - und sei es auch nur als Jammerlappen.
Weg von, heraus aus Freude am Lernen, an Arbeit, heraus aus Fleißeszufriedenheit, aus
Charakterbildung, hinein in die Therapie! Man befördert die Herrschaft der matten Müdigkeit.
Hat denn einer, wer hat denn überhaupt jemals zu behaupten gewagt, dass das Leben, das
Zusammenleben einfach sei. Freilich:
Wir sind nicht einmal mehr in der Lage das Einfache, das Selbstverständlichste zu tun: Jungen
Menschen zu zeigen wo sie hingehören, wo ihr Platz ist - das ist auch da wo der Hammer
hängt. Folglich: Es gibt keine Handwerker mehr. Ohne Wenn, ohne Aber. Sie spüren viel und
wissen wenig, die Kinder; nicht umgekehrt; nicht das Schaukelpferd von hinten aufzäumen.
Erst Vertrauen dann Selbstvertrauen, niemals umgekehrt. Erst Bewußtsein - dann
Selbstbewußtsein; niemals umgekehrt.
Das Ich hier, das Ich da, allenthalben: Ich. Das Ich bedarf dann eines anderen Ichs zur
Selbstfindung, zum umfassenden Beachtetwerden und so immerfort. KrankenversichertesIch.
Aufmerksamkeitsdefizitäres Ich. Autismus als Mode.
Und da haben wir sie: Eine geldfressende, sich an der Unselbständigkeit, am abhängig
machenden, sitzenden Lebensstil emporschwingende Jugendhelferindustrie. Nationalsport:
Bezichtigung des Sozialfehlverhaltens. Jugendhilfe als vierte Macht im Staat. Helfersyndrom
verpaart mit verborgen lauernden Machtgelüsten. Bankrotte Renommierbude BRD in Sachen
Sozialausgaben.
Es kommt einem prompt der Baron Münchhausen in den Sinn, auch er aus einer längst
vergangenen Zeit: wie er da erzählt, der Baron, dass er sich auf seinem Pferd sitzend am
eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen habe: Da werden sie schreien, die jugendlichlügnerischen Leistungsverweigerer, die ältlichen Sichselbstbelügner, die Menschenunkenntnissozialfachleute:
Ha! Baron Münchhausen! Das ist doch ein Lügner! Der Lügenbaron. Lügenheld.
Jedenfalls ist er ein Lügner, von dem jeder weiß, was er für einer ist. Ein enttarnter Lügner
und damit ein ehrlicher Lügner. Und der trotzdem Recht hat. Er hat nur andere belogen, nicht
sich selber. Und schön hat er auch noch gelogen. Wahrheit mit Maske. Nicht umgekehrt.
Das können wir nicht von uns behaupten. Wir bemerken gar nicht, wie wir uns selbst und
einander belügen. Belügen lassen. Auch von Kindern. Und von Jugendlichen. Lügen als
Volkssport. Zur scheinbaren Selbstfindung. Und uns von allem und jedem ins Unrecht setzen
lassen. Wegen Angst: Toleranzversagensangst. Die Frage wo Toleranz aufhört und Feigheit
beginnt stellt sich.
Die Hand an der Wiege regiert die Welt. Man lasse seine Finger da, wo sie hingehören. Man
führe, man greife zu mit fester, vertrauenerweckender Hand. Nicht andere herumschunkeln
lassen. Da wird dem Kind nur schwindelig.
Die Vernunft und ihre Tochter, die Wahrheit verbergen sich weiterhin; unter tiefem Brunnen
der Weisheit. Unten, fernab in kristallenen Höhlen klaren Lichtes der Erkenntnis; da
verweilen sie, zusammen im Verborgenen, unmotiviert nach all den epochalen, den
epocheübergreifenden Enttäuschungen in der Welt. Und der Baron Münchhausen wird sich
ihnen zugesellen, auf der Flucht, auf seinem Gaul, da man ihn bewusstseinsfanatisch
irgendwelcher Vergehen gegen korrektes, aber auch sowas von korrektes Verhalten
bezichtigt. Böser Basher!
Das schreit nach Soziallynchjustiz.
Was uns hier oben, draußen in der Dunkelheit bleibt ist Haareraufen - ob mit oder ohne Zopf.
In unserer im sozialmarktwirtschaftlichen freien Fall befindlichen Wohlstandsgesellschaft.
Doch das ist ein anderes Thema…
April
Gerechtigkeitshelfer, wir,
das sollten wir alle sein, freilich:
Vielleicht beginnt alle Gerechtigkeit mit der Bescheidenheit und hört mit der
Selbstgerechtigkeit auf.
Vielleicht sind wir alle einfach nur gerechtigkeitsunbegabt.
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